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3
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Posted: 28 Nov, 2017 @ 2:34pm
Updated: 24 Sep, 2019 @ 11:07am

"The hardest battles are fought in the mind."
Mit Hellblade liefern uns die britischen Entwickler Ninja Theory das wohl besonderste und im positiven Sinne eigenartigste Spiel, das ich seit etlichen Jahren gesehen habe. Ihren frisch gewonnenen Indie-Status haben die Briten dazu genutzt, um ein bis heute in unserer Gesellschaft eher tabuisiertes Thema zu behandeln: psychische Krankheiten.

Die Story und die Atmosphäre
Europa, gegen Ende des 7. Jahrhunderts: Die Keltin Senua, die von kleinauf unter einer schweren Psychose, die sich in Form von Wahnvorstellungen und Stimmen in ihrem Kopf manifestiert, leidet, wurde wegen ihrer Krankheit aus ihrer Dorfgemeinschaft ausgestoßen und mit einem Leben in Einsamkeit tief in der Wildnis bestraft. Jahre später kehrt sie in ihr altes Heimatdorf zurück – und findet nur noch Ruinen vor. Bei einem grausamen Angriff durch die Nordmänner wurde ihr ehemaliges Zuhause zerstört und ihr Liebster Dillion getötet. Bei dem Versuch, seine Seele zu retten, wagt sie kurzentschlossen einen verstörenden Abstieg in die Hölle der Nordmänner.

Mehr möchte ich an dieser Stelle gar nicht verraten, damit niemand gespoilert wird. Nur so viel: Was wirklich geschieht, und was sich nur in Senuas Kopf abspielt, ist eine der spannendsten Fragen von Hellblade. Außerdem haben die Entwickler für die Darstellung der Kelten und deren Umgang mit psychischen Krankheiten mit Historikern und für Senuas Kampf gegen ihre inneren Dämonen mit Psychologen zusammengearbeitet. Und das merkt man! Das Endresultat ist ein unheimlich atmosphärisches und glaubhaftes Erlebnis, das einen so schnell nicht mehr loslässt. Und durch die großartige Aufarbeitung von Senuas Krankheit ist die Protagonistin des Spiels ein unglaublich vielschichtiger und interessanter Charakter – auch wenn es im Spiel kaum Dialoge gibt.

Das Gameplay und die Steuerung
Wer bei dem Titel "Hellblade" ein hektisches Action-Feuerwerk erwartet, der ist ordentlich auf dem Holzweg. Die meiste Zeit in Hellblade verbringt man damit, wie in einem Walking Simulator von A nach B zu laufen. Zwischendrin wird man dann häufig mit einfacheren Rätseln konfrontiert – meistens bestehen diese daraus, in der Umgebung einzelne Runen auszumachen, die dann eine Tür öffnen. Das ist am Anfang noch eine halbwegs spannende Mechanik – die auch zur Thematik passt (dem psychosenbedingten Sehen von Zeichen und Symbolen in der Landschaft), nutzt sich aber leider nach einer Weile stark ab, da sich diese Runen-Such-Rätsel zu oft wiederholen und an einigen Stellen ein wenig den Eindruck machen, das Spiel etwas strecken zu wollen. Es gibt zwar auch einige wirklich sehr cool gemachte Rätselaufgaben, die kommen aber leider viel zu selten vor.
An vereinzelten Stellen kommt es auch zum Schwertkampf gegen mysteriöse Schattenwesen – der spielt sich zwar sehr einfach, fühlt sich aber, hauptsächlich weil Senua dabei ungefähr so beweglich wie ein Panzer agiert, nicht wirklich gut an: es gibt leichte und schwere Angriffe und Senua kann (mehr schlecht als recht) ausweichen. Der Kamerawinkel ist in den Kämpfen meist recht eingeschränkt, aber Senuas Stimmen im Kopf warnen sie vor drohender Gefahr ("Behind you!" etc.), wodurch das im Spiel nicht wirklich stört. Die KI der Gegner ist dabei nicht gerade umwerfend, mit groben Aussetzern wird man aber auch nicht konfrontiert.
Durch die meist eher repetitiven Rätsel und das nicht 100% gelungene Kampfsystem gehört für mich persönlich insgesamt das eigentliche Gameplay leider nicht zu Hellblades Stärken. Die Bedienung funktioniert aber (mit Gamepad) wirklich hervorragend.

Die Grafik
Hellblade sieht fantastisch aus. Die in der Unreal Engine 4 gestalteten, unheimlich detailreichen Areale der einzelnen Level sehen großartig aus, die Charaktermodelle – vorallem natürlich die Protagonistin Senua – sind umwerfend und die Texturen und Animationen machen auch einen guten Gesamteindruck. Hier gibt es absolut nichts zu meckern. Für ein Independent-Entwicklerstudio wurde im technischen Bereich bei Hellblade wirklich großartige Arbeit geleistet.

Der Sound
...ist nicht von dieser Welt. Die Umgebungsgeräusche von Hellblade sind spitze, der Soundtrack verstärkt die unheimlich dichte Atmosphäre immens und die Dialoge – allen voran die perfekt abgemischten Stimmen in Senuas Kopf – sind großartig vertont. Man sollte das Spiel aber unbedingt mit Kopfhörern spielen, sonst begeht man einen großen Fehler! Einziges winzig kleines Manko: Es gibt leider keine deutsche Sprachausgabe, aber zu jedem Zeitpunkt bei Bedarf Untertitel ;)

Der Umfang
Ein kompletter Spieldurchlauf in Hellblade dauert – je nach Spielertyp – ungefähr 8 bis 10 Stunden, was, da wir es hier mit keinem Vollpreistitel zu tun haben und uns obendrein Dreck wie Mikrotransaktionen oder DLCs erspart bleiben, vollkommen in Ordnung ist.

In Zahlen
Writing
Story 9/10
Charaktere 9/10

Technik und Atmosphäre
Spielwelt 10/10
Grafik 9/10
Sound 10/10

Gameplay
Leveldesign 6/10
Rätsel 6/10
Bedienung 5/5
Balancing 5/5
Kampfsystem 3/5
KI 3/5
Umfang 8/10

Insgesamt: 83/100

Hellblade ist ein extrem unkonventionelles Spiel, das mich – wie kaum ein anderes in den letzten Jahren – unglaublich emotional berührt und einfach beeindruckt hat. Und dabei ist Hellblade eigentlich nicht einmal ein "gutes" Spiel im klassischen Sinne. Es besticht weder durch bildgewaltige Action, noch durch spannendes Gameplay. Aber es ist eine unheimlich emotionale und bedrückende Reise durch die Hölle und die Abgründe der menschlichen Psyche und dabei eine faszinierende Gratwanderung zwischen Realität und Wahnsinn: Es ist ein Kunstwerk.

Ob man Hellblade nun kaufen sollte oder nicht, hängt letztendlich von der persönlichen Präferenz ab. Wer bei Videospielen hauptsächlich leicht verdauliche Action-Kost sucht und sich eher berieseln lassen möchte, dem wird Hellblade wahrscheinlich eher nicht gefallen. Und auch wer eine spielerische Herausforderung sucht und spannendes Gameplay erwartet, wird bei Hellblade nicht fündig. Wer jedoch eine – zwar spielerisch nicht sonderlich anspruchsvolle – aber unheimlich besondere Erfahrung möchte und mit vielen offenen Fragen und Interpretationsspielraum in der Story etwas anfangen kann, dem kann ich Hellblade wärmstens empfehlen!
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8 Comments
bloodstix 27 Nov, 2023 @ 9:32am 
Wenn man das Gamepad richtig bedient ist deine Aussage "bewegt sich wie ein panzer" absolut nicht korrekt. Man kann sehr gut und auch schnell ausweichen und auch auf die gegner zurennen und angreifen. Und wenn mans im dunklen raum spielt ist der Sound der Hammer.
Henryk Shepard 14 Mar, 2020 @ 1:16pm 
Sauberes Review. Bestätigst genau meinen Eindruck den ich nach dem Trailer hatte. Thx nun bin ich mir sicher das es gut ist! Gekauft!
Captain Ping Pong 23 Jun, 2018 @ 3:55am 
Sehr hilfreiches Review
Psychosen sind nichts tolles, ist jedoch schön, dass es zu einer Spielidee geführt hat, wie es auch immer zu stande kam...
Interpretationsmöglichkeiten und Fragen, mit denen man sich beschäftigen kann sind immer ein tolle möglichkeit Zeit zu verschwenden :steamhappy: .
Ist es auch so das, wenn man am Ende ist, man erstmal nicht weiß, was man dazu sagen soll? Hört sich irgendwie sehr danach an, da es einen Ja viel speckulieren lassen soll - wie du schriebst - und dich offen zurücklässt.
Swaylor Tift 27 Dec, 2017 @ 12:10am 
Dankeschön :steamhappy:
Das liegt daran, dass das Spiel über einen super umgesetzten 3D-Sound verfügt. Die Stimmen in Senuas Kopf beispielsweise, die ja alle verschiedene Persönlichkeiten repräsentieren, kommen aus unterschiedlichen Richtungen (z.B. hinten rechts etc.) und lassen sich so voneinander unterscheiden. Und das lässt sich am besten mit Kopfhörern erleben.

Dir auch einen guten Rutsch!
Jogi 26 Dec, 2017 @ 9:14pm 
Sehr schön geschrieben!
Aber könntest du kurz erklären warum es ein großer Fehler wäre das Spiel nicht mit Kopfhörern zu spielen?
Danke, beste Grüße + nen Guten Rutsch
boron92 9 Dec, 2017 @ 1:43am 
Das hört sich doch gut an.
Danke für die schnelle Antwort :)
Swaylor Tift 9 Dec, 2017 @ 12:36am 
Danke für das positive Feedback. ;)
Ja, auf jeden Fall. Hellblade ist im Allgemeinen kein besonders schwieriges Spiel. Die Kämpfe des Spiels sind die einzigen Situationen, die einen überhaupt spielerisch fordern, und die lassen sich (zumindest mit Gamepad - Maus + Tastatur habe ich nicht ausprobiert) wirklich leicht spielen. Außerdem lässt sich deren Schwierigkeitsgrad im Hauptmenü frei konfigurieren.
boron92 8 Dec, 2017 @ 11:44pm 
Eine gute Rezeption, mein Kompliment.
Denkst du, dass das Spiel aufgrund der einfachen Kampfschwierigkeit etwas für Neulinge des Genres ist?